Andy Warhols Mona Lisa

#andwhataboutthelyrics Folge 9

Während ich an einem nassen Tag einen Spaziergang an den Inn mache, werden meine Erinnerungen in den brasilianischen Regenwald katapultiert, wo ich einmal einer unangenehmen Tätigkeit nachgehen musste:

An jenem Sonntagvormittag
Warf ich eine Kastanie in den Inn bei Klosterau
Meine Kordhose schurrte leise im Takt der matschigen Schritte
Nasse Füße bis zu den Knöcheln
Aber ich hatte noch einen weiten Weg vor mir
Bis nach Dinkelsbühl
Und abends nach Berlin
Während eines Zwischenstopps in Brincabrinca
Einem bröckeligen Spielerkaff
Am Rande eines Schlaglochs auf der Trans Amazónica
Fiel ich vom Glücksrad
Und lag drei Wochen lang
Nackt auf dem Bauch
Eingeschweißt
Hinter Panzerglas
In funzeligem Licht
Auf einem schmutzigen Altar morscher Knochen
Ich verdiente mir meinen Unterhalt
Mit dem An- und Entspannen meiner Pobacken
Und man hatte mir
Andy Warhols Mona Lisa
Als Jutebeutel über den Kopf gestülpt…

Diese Wanderung durch den Amazonas zum Potsdamer Platz ist mit einer Pilgerreise vergleichbar. Es geht um Abschied und Verarbeitung, Läuterung und Wandlung. Es geht darum Grenzen zu setzen und klar zu machen, dass man alles getan und alles gegeben hat, soweit das möglich war. Und dass man nicht mehr bereit ist für ein diffuses Zusammengehörigkeitsgefühl der einen mit der anderen Seite der Weltkugel sich selbst und die eigene Geschichte auszubeuten.

Als ich das erste Mal wieder das Licht der Sonne erblickte
War Winter in Santarém
Und in Berlin fand das 3. Beachvolleyball – Turnier vor dem Sony – Center
Am Potsdamer Platz statt
Ich lief schnell nach Hause
Um mich noch umzuziehen
Gab meine Wette ab
100 zu 1 für Eintracht Zwietracht
Und gewann einen Fensterplatz in Fahrtrichtung 1. Klasse
Und ein Freigetränk im Café Mitropa
Raststätte auf Rädern:
Was kann ich für Sie tun?
Ich möchte bitte glücklich sein
Und ein Radeberger
Und haben Sie Erdnüsse?
Das macht Fünf Mark Dreißig
Aber kommen Sie doch an die Kasse
Da hinten ist ein leeres Abteil…

KF in Lissabon, September 2001 ©S.Müssigbrodt 

Und da ich nicht jedes einzelne dieser schönen Bilderrätsel in einen autobiografischen Zusammenhang stellen möchte, bleibt mir nur zu erklären, dass bei dieser Geschichte die Zeit ausgehebelt ist und die Orte keine besondere Bedeutung haben. Nur die Entfernungen, die ich zurücklege, sind wichtig. Es geht um die Bewegung, um den langen Marsch durch unwegsames Gelände, von der einen Seite der Weltkugel auf die andere, vom Regen in die Traufe, durch funzeliges Licht zurück in die Sonne.

Vielleicht ist es interessant zu erfahren, dass ich die meisten dieser Texte vom Anfang bis zum Schluss in einem durchschreibe. Natürlich überarbeite ich die Fassungen wieder und wieder, ändere Vokabeln, feile am Rhythmus, aber der Erzählstrang ist von Anfang an da. Und wie bei einer Gesangsimprovisation oder einem Instrumentalsolo gibt der Einstieg in die Geschichte letztendlich vor, wie sie enden wird. Was nicht bedeutet, dass ich davon, wie sich der Faden der Geschichte abspult, nicht genauso überrascht bin, wie die Leser*innen es möglicherweise sind. Möglicherweise werden wir diese Reise im Leben mehrmals machen.

Nein!
Sie haben mich ganz sicherlich missverstanden
Und ich nehme es Ihnen nicht übel
Sehen Sie
Hier ist eine Kastanie aus Klosterau
Eine Walnuss aus Dinkelsbühl
Eine Mandelschale aus Picapau
Und eine Eichel von der Pfaueninsel
Ich habe noch
Ein Schneckenhaus aus Pezenas
Eine Schlangenhaut aus Bogotá
Einen Coyotenzahn aus dem Toten Tal
Und drei silberne Seepferdchen an einem Lederband
Und ein Fäustchen aus Ebenholz
Gegen den bösen Blick
Aus einem Ramschladen in Bad Griesbach bei Istanbul New Mexico USA
Capiche?
Einen Tag im Hammam und die alte Haut kommt runter
Noch einen Tag allein in Gedanken
Und der Kopf fliegt weg
Im Fieber
Behalten Sie also ihre Erdnüsse
Sie Trottel!
Ich schenke Ihnen alle meine Souvenirs
Aber meine Pobacken
Die habe ich drei Wochen lang in Zuckerrohrschnaps gebadet
Sie fühlen sich jetzt endlich wieder gut an
Und sie gehören nur mir.

Leider kann ich mich nicht erinnern, wann ich Andy Warhols Mona Lisa geschrieben habe. Vermutlich kurz vor der Jahrtausendwende. Veröffentlicht wurde der Text mit dem Album “Zeitlupenkino” im Mai 2002.

©Katharina Franck. 26.11.2017, auf Wunsch von Manjack Rumpelstil

6 Comments

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  1. Das obige Album wurde mir dereinst kurz nach der Veröffentlichung als Kassette von einem Freund mit auf eine längere Reise gegeben. “Damit du deine Muttersprache nicht vergisst…” Seit der “Two Faces” hatt ich deine Stimme nicht mehr gehört und doch war sie sofort wieder da und vertraut. Vielen Dank für das, was du tust! Es berührt..

  2. Wer ist eigentlich diese tolle Stimme im Hintergrund? Das hatte ich mich schon lange mal gefragt. Der Song hört sich auch nach einem schweren Weg an oder so ungefähr nahm ich es damals wahr.

    • Der Song heißt “O Nosso Amor” und stammt vom Soundtrack zum Film Orpheu Negro. Im Netz habe ich keine Angaben gefunden. Ich muss die CD suchen, um Dir den Namen der Sängerin zu sagen.

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