»Wieso spricht sie denn, wenn sie doch singen kann«?

Artist
Katharina Franck
Released
2011

Ein Essay.

Der Song entsteht, während ich singe, und die Geschichte entsteht beim Schreiben. Ich schöpfe aus mir, aus allem, was mich umgibt, und wenn ich, während ich arbeite, merke, dass da was ist, das sich lohnt, erzählt zu werden, dann bin ich einfach nur froh und dankbar, dass da was ist. Und das ist es auch schon.

António Sérgio, ein Radio-DJ, der für die musikbegeisterten Jugendlichen in Portugal so wichtig war wie John Peel weltweit, hatte auch keine Angst vor Literaturreferenzen in der Rockmusik. Er legte in seinem Programm Rotação (deutsch: Umdrehung), das in der Radio Comercial zwischen 1977 und 1981 von 22:00 bis 24:00 Uhr lief, von Richard Hell nicht nur »Blank Generation« auf, sondern las auch eines seiner Gedichte vor, spielte Television und erzählte von den Neon Boys. Das waren Richard Hell, damals noch Richard Meyers, und Tom Verlaine, damals noch Tom Miller, die Gedichte schrieben und in selbst publizierten Magazinen Texte über Rimbaud und Antonin Artaud sowie eigene Arbeiten veröffentlichten. Einem Song von John Cale ließ António Sérgio »Gloria – In Excelsis Deo« folgen, den Opener von »Horses«, dem wichtigsten Album, das Mitte der 70er Jahre erschien. »Noch vor den Sex Pistols, The Clash, The Ramones sprengte Patti Smith, die Hofdichterin des Punk, die nichtssagende Musikszene der Mit-Siebziger mit ihrem rohen, revolutionären Sound«, schreibt Mark Paytress in »Horses and the remaking of Rock ‘n’ Roll«. Und weiter: »Die Veröffentlichung ihres Debüts ›Horses‹ veränderte die Rockmusik für immer«.

Mich veränderte es auf jeden Fall. Meine erste Begegnung mit Patti Smith fand allerdings nicht übers Radio statt, sondern auf der Gästetoilette in unserem Haus in Estoril, Portugal. Ich war noch 14 oder gerade eben 15, und the times they were a-changin’. Meine Mutter bezog seit geraumer Zeit die »Emma« im Abonnement, die Trennung meiner Eltern stand bevor, und ich saß da, blätterte in einer Ausgabe des Frauenmagazins und fiel fast vom Klo, als ich das Foto eines schmalgesichtigen Wesens mit zotteligem schwarzen Haar sah, mit lose gebundener schwarzer Krawatte zu weißem Herrenhemd, das Jackett wie Frank Sinatra lässig über die Schulter geworfen. Darauf war das Gedicht »female« abgedruckt:

female. feel male ( Wortspiel aus »weiblich« und »sich männlich fühlen«), solange ich den zwang zur wahl schon kenne, habe ich male gewählt, ich spürte den lebensrhythmus der jungen, als ich kurze hosen trug, also trug ich weiter hosen (…) ich lief herum mit einem rudel wölfe. ich kotzte jede schürze an. brüste kriegen war für mich ein alptraum. wütend schnitt ich all mein haar ab und kniete mit glasigen augen vor gott. ich bettelte ihn an, mich einzuordnen in mein barbarisches geschlecht, das männliche geschlecht, die rasse meiner wahl.

Meine Mutter war vor ihrer Schwangerschaft mit meiner älteren Schwester Buchhändlerin, und in unserem Haus standen die Regale voller Bücher. Es waren nicht nur die alten Klassiker. Ich erinnere mich an E.T.A. Hoffmann und Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann und die aufwühlende Fotoreportage »Bilder aus Amerika« von Jacob Holdt. Auch die Plattensammlung war anders bestückt als die der Eltern meiner Schulkameraden. Neben Maria Callas und den »Brandenburgischen Konzerten« standen Billie Holiday und Dizzy Gillespie, Miles Davis und Thelonius Monk, Jimi Hendrix und Janis Joplin. Zu »Qualtinger liest Karl Kraus« nahm meine Mutter, auf dem Sofa liegend und Tränen lachend, ihren ersten Drink, wenn ich nachmittags aus der Schule kam, und dennoch musste auch ich – und so wird es wohl immer sein – vor blond gelocktem Teenager-Musikgeschmack durch eine eigene Epiphanie gerettet werden.

Haben Sie überhaupt Abitur?

Diese Wildheit und die Unverfrorenheit, sich hinzustellen und zu sagen, hier bin ich, so bin ich, ich kann das alles nicht und tu es trotzdem, die strassenpredigerhaften Wortkaskaden voller toter Rockmusiker und bedröhnter Dichter, strenger Bildhauer und ihren Werken, ihren Musen, Göttinnen der Leinwände, Opernsänger, Märtyrerinnen und Wilhelm Reich, einem Wissenschaftler, der für verrückt erklärt wurde, weil er überzeugt davon war, die Energie des Lebens entdeckt zu haben, hat mich einfach umgehauen. »Birdland« von Patti Smiths Debütalbum »Horses« war der erste gesprochene Popsong, den ich hörte, und spätestens da wusste ich, dass sich auch noch andere Menschen fremd fühlen in der Welt, und dass man sich seinen Platz darin selber nehmen muss. Dass verstörende Augenblicke, Klänge, Bilder, Worte und Gefühle nicht unter den Teppich gekehrt werden müssen, und dass das Ding, Das Nicht Erklärt Werden Kann, da sein darf, benannt werden darf, besungen, beschrieben, wie ungeschliffen und ungelenk auch immer es zunächst wirken mag.

Schnitt.

1997 erscheint auf dem kleinen Label Sans Soleil mein erstes Album mit vertonten Kurzgeschichten, Briefen, Aufrufen an die Nachbarschaft und Cut-Ups. »Hunger«, die Titelgeschichte meines ersten Albums mit gesprochenen Popsongs, die ich damals aber noch nicht so nannte, wurde in der »Frankfurter Rundschau« abgedruckt. Das Album in seiner Gesamtheit brachte mir einen Hörspielauftrag vom Bayerischen Rundfunk ein. »Bei unserer Lebensweise ist es sehr angenehm, lange im Voraus zu einer Party eingeladen zu werden«, das auf Briefen der amerikanischen Schriftstellerin Jane Bowles basiert, wurde Hörspiel des Monats September 1999. Und so werde ich das Gefühl nicht los, zumal ja auch mein Debüt mit den Rainbirds das Erfolgreichste aller meiner bisherigen Alben ist, dass ich, wenn ich etwas zum ersten Mal mache und eigentlich noch nicht so richtig weiß, wie es geht, am besten bin.

Brief: Ist nicht der Kampfschwimmer so schnell wie der Blitz?
Zur Freude der Schriftsteller: Rebellion muss immer Poesie bleiben, und Kunst langsamer Sex.
Liebe in Fleisch und Blut.
Strategie ist dabei völlig sinnlos.
Lauthals begehrt ein Lied den Kopf unserer kleinen Truppe die nur auf Durchreise war, und gewinnt.
Die Fahne flattert nun falsch herum im Herzen der Silbermaschine.
Die Tulpen und Narzissen des Untergrunds vermodern im Alltag.
Erziehung ist eine Strafe für alle mit viel Willen und Würde.
Missverständnis Nr.1 ist:
Haben Sie überhaupt Abitur?
Adieu, Kate.

(Textcollage, ca. 1984)

Als 1992 »Ich-Maschine« von Blumfeld rauskam, bin ich bei »Lass uns nicht von Sex reden« voller Begeisterung um das Faxgerät gerannt, weil ich einen Fanbrief an die Band und deren Label What’s So Funny About.. schicken wollte. Der Sänger hatte eben jenes Gedicht »female« von Patti Smith, mein erstes poetische Erweckungserlebnis, in einen seiner eigenen Texte über die Unmöglichkeit der Vereinigung von Mann und Frau unter den althergebrachten Bedingungen und Normen eingefügt, und ich fühlte mich angesprochen. ICH und keine Antworten in meiner Vergangenheit, ICH und keine Antworten in meiner Zukunft. Wie schon bei einer Sammlung von Gedichten, die ich Ende der 70er Jahre an die Fanpostadresse von Patti Smith schicken wollte und ich mich in meiner Erinnerung daran nicht entscheiden kann, ob ich das Päckchen in einen Briefkasten oder in eine Mülltonne geworfen habe, ereilt mich auch im Zusammenhang mit meinem Fanfax an Blumfeld eine merkwürdige Amnesie. Eine Antwort habe ich jedenfalls nicht bekommen, weder von Patti Smith, noch von Jochen Distelmeyer.

Ich bin heilig.

Ende 1999 und das ganze Jahr 2000 hindurch begleiteten mich die Baby Namboos, eine britische Trip-Hop-Band, durch meine bisher vielleicht schlimmste Lebensphase. Aus einer geplanten Pause meiner Band Rainbirds wurde das Aus, und zum ersten Mal wusste ich nicht mehr, wie es weitergeht. Ich war völlig erschöpft und ratlos, und die Textzeile »under no illusion, I reserve the right to be incorrect sometimes« aus deren Song »Holy« war mein Mantra, damit ich überhaupt aus dem Haus gehen konnte.

Zuhause hielten mich Filme am Leben. Vor allem der Film-Essay »Sans soleil« von Chris Marker spendete Trost für alle Sinne. Es sind (zum Teil geborgte) Bilder und Reisebeschreibungen, Gedanken, Anekdoten, thematische Reflexionen über den Blick und das Kino, die der Kameramann Sandor Krasna (vermutlich ein alter ego des Regisseurs) von seinen Reisen durch Island, Japan, Neu-Guinea, Paris und San Francisco an einen ungenannten Empfänger schickt. In der deutschen Fassung ist es die Schauspielerin Charlotte Kerr, die diese Briefe mit etwas müder, scheinbar ungerührter Stimme liest. Das ist sexy und mütterlich beruhigend zugleich. Die Tonspuren unter den Bildern wiederholen sich hier und da elektronisch verfremdet, und einige der zuvor gesehenen Bilder tauchen ebenfalls verfremdet an anderen Stellen wieder auf. Diese Techniken wollte ich auf mein weiteres Schreiben übertragen und meine bereits geschriebenen Texte und Notizen entsprechend bearbeiten. Wenn es schon möglich war, dass ich nie wieder einen Popsong schreiben würde, der sich singen ließe, dann wollte ich in diesem, für mich von mir selbst erfundenen Genre der Gesprochenen Popsongs keine Kompromisse machen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist Jetzt.

Zeitsprünge, parallel verlaufende Erzählebenen, Überblendungen, schnelle Schnitte, Nahaufnahme und Halbtotale: »Zeitlupenkino« erschien 2002 und enthält Texte von 1996 bis 2001. Bei der Record Release Party und Live-Premiere im Berliner »Oxymoron« im Mai 2002 war ich sehr aufgewühlt und musste weinen, wie ich es öffentlich zuletzt bei der Verleihung der Goldenen Schallplatte für mein Debüt mit den Rainbirds getan hatte. Ich habe immer die Tendenz, mich bei meinen Arbeiten, sei es beim Schreiben oder Produzieren, sehr zu verausgaben, und dass ich nun zum ersten Mal ein komplettes Programm in Deutsch und damit doch vollkommen unmissverständlich auf die Bühne brachte, hatte mich heftiger beansprucht, als ich ahnte. Bei Mute Records war das Album gut aufgehoben, doch es bekam nicht den Fred-Jay-Preis für deutsche Texte, und das Feuilleton biss auch nicht an, und manch ein Kritiker fragte sich und seine Leser: »Wieso spricht sie denn, wenn sie doch singen kann?«

Im Januar 2007 schrieb ich auf Sylt meinen Hörspiel-Monolog »Nazaré – Nicht die Stadt, die Frau«, ebenfalls für den Bayerischen Rundfunk. Die nicht ganz erfundene Biografie eines portugiesischen Dienstmädchens, in die ich auch autobiografische Erinnerungen einfließen ließ, handelt von der portugiesischen Nelkenrevolution und einer außergewöhnlichen Frau, der ich kurzerhand die Fäden der sich allmählich entwickelnden Ereignisse bis hin zum erfolgreichen Militärputsch am 25. April 1974 in die Hände gab. Der Text hat einen Refrain und Passagen, die im Laufe der Geschichte leicht verändert wiederkehren, so wie es sich doch auch im wahren Leben zuträgt. Die drei zitierten Texte, das Gedicht »Bildnis einer unbekannten Prinzessin« von Sophia de Melo Breyner Andresen, einen Auszug aus »Der Judaskuss« von António Lobo Antunes und eine leicht abgewandelte Passage aus »Die Schritte im Kreis« von Herberto Helder habe ich mir ausgesucht, während ich beim Schreiben wie bei einem Malefiz-Spiel immer wieder diese kleinen, gemeinen Barrikaden umgehen musste, die mir die Geschichte mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dort hingelegt hatte. Immer wieder passiert es mir beim Schreiben, dass ich den Eindruck habe, die Geschichte stünde schon geschrieben, ich müsste sie nur erkennen und aufzeichnen.

War das etwa schon alles?

Als sich nach vier Wochen sitzen und arbeiten, eine sich ankündigende Thrombose in den Beinen und ein Panzer aus Stahlbeton fest um meinen gesamten Körper gelegt, die drei ausgeworfenen Erzählstränge in der Schlusspassage von »Nazaré« zu einem so traurigen wie stimmigen Finale fügten, war ich mir sicher, dass mich etwas oder jemand bei der Hand genommen hatte. Ich weiß nicht was oder wer, aber – vielen Dank! Als ein paar Tage später der Dramaturg vom Bayerischen Rundfunk anrief, um mir zu sagen, dass alles toll ist und nichts gekürzt werden muss, brach der Panzer auf, die Beine wurden leicht, und ich rannte zwei Stunden lang gegen den Sturm »Lancelot« an, bis zur »Sansibar«, und trank eine Flasche Champagner auf mich und das geheimnisvolle Wesen, das mir die letzten 100 Meter wohl den Stift geführt hatte.

Während ich an »Hunger« arbeitete, schrieb ich einen Großteil der Songs für die beiden letzten Rainbirds-Alben »Making Memory« und »Forever«. Danach kamen das erste Hörspiel mit dem langen Titel und dann die Zeit des Nichts und des Neuanfangs und die ersten Arbeiten am »Zeitlupenkino«. Davon nahm ich mir eine kleine Auszeit, um mit dem großartigen Duo Rosanna & Zélia auf Tournee zu gehen, und 2005 schrieb ich das Manuskript zum literarischen Feature »Ich war Fischen« für den SWR. Da war »First Take Second Skin«, mein erstes Singer-Songwriter-Album nach dem Ende der Rainbirds, schon fertig, hatte aber noch kein Label. Dann folgte »Nazaré – Nicht die Stadt, die Frau«, zu dem der portugiesische Komponist und Klangkünstler Nuno Rebelo die Musik machte, und mit dessen Hilfe eine Fassung in portugiesischer Sprache entstand, damit wir das Stück auch in Portugal live aufführen konnten. Und schließlich erschien im Dezember 2008 mein bisher letztes Soloalbum als Singer-Songwriter, »On the verge of an autobiography«.

Auf diesem Album verbinde ich alles was ich bisher gelernt habe. Ich verarbeite Geschichten, die durch Schichten ungeklärter Vergangenheit hindurch in mein Bewusstsein getreten sind. Ungebetene Gäste, aber wenn sie schon einmal da sind, kann man ihnen ruhig einen Kelch ihrer eigenen Brühe vorsetzen, oder nicht? Ich kehre auch zurück zu dem kleinen 4- oder 5-jährigen Mädchen, das ich war, und das sich selbst in den Schlaf singt, ihre Familie beschützt und alle Monster in die Flucht schlägt. Ich bedanke mich bei meinen Musen und verabschiede mich höflich von alten Bekannten. Ich begrüße eine neue Liebe und mache allen Mut, die auch immer wieder an ihre Grenzen stoßen und sich fragen, war das jetzt etwa schon alles: ICH und ICH in der Wirklichkeit?

Derzeit mache ich Urlaub auf die Art, wie mir Urlaubmachen am Besten gefällt: ich arbeite. Mit dem Club der toten Dichter toure ich als Interpretin und Gitarristin durch Deutschland. Reinhardt Repke, der Gründer des Clubs, hat diesmal Gedichte von Rainer Maria Rilke vertont, und es ist sehr interessant und erholsam zugleich, mit all seiner kreativen Energie den Facettenreichtum eines anderen Künstlers zu spiegeln. Und Rilke passt zum mir wie die Faust aufs Auge. Seinen Wunsch hege ich auch: über das Beschreiben kleinster Dinge, Blicke und Bewegungen das große Ganze zu sehen, zu verstehen und in Ruhe zu lassen. Im anderen und in mir selbst.

© Katharina Franck; veröffentlicht in der Melodie & Rhythmus 2/2011; Foto: © Tanja Schnitzler