Zeitüberbrückende Tiere (Entwurf für eine Szenische Lesung)

Basierend auf dem Cut-up “Ich delete meinen comment, Mary Poppins”, dessen Ursprung wiederum auf MySpace-Korrespondenzen zwischen kater lezmann, Piet + mir  zurückgeht, habe ich mir überlegt, wie so ein Text auf die Bühne gebracht werden könnte.

Fundstück. Lissabon, 2007
Fundstück. Lissabon, 2007

I.

Eine ganz dunkle Bühne. Licht und Ton wird an unterschiedlichen Stellen allmählich auf- und teilweise wieder abgeblendet. In drei Lichtkegeln, drei Computerplätze. Yves und Mary Poppins sitzen, Johanna steht an ihrem Platz. Die Geräusche und die Musik aus dem Internet schwellen an und ebben ab, und treten manchmal einzeln vernehmbar hervor. Allmählich entsteht eine Kakophonie aus Klängen und Wortfetzen, die abrupt endet. In die Stille hinein hört man das Tippen der Tastaturen. Was vom einen Absender geschrieben wurde, liest der andere Adressat laut vor. Wer schreibt und wer liest ist nicht festgelegt.

Yves, Mary Poppins und Johanna (unisono): Wir werden beobachtet!
Mary Poppins: Ich weiß, dass die wissen, dass wir mit Geduld und einiger Abenteuerlust auf dieser unglaublich riesigen Müllhalde einiges an Sonderbarkeiten entdecken werden, die, so zusammengesetzt, dass sie bitte keinen Sinn ergeben, uns weiter bringen, als alles sinnvoll Unentdeckte je zuvor vermochte.
Yves: Aber sie wissen nicht wie das geht. Sie kennen die Formel nicht, und dass Medizin auf einem Kaffeelöffel Zucker leichter runter geht.
Johanna: Man träumt vom Fliegen.
Mary Poppins: Ich träume und habe ein Kind ohne Zähne gesehen. Nur so ein paar schwarze Stumpen in der aufgerissenen Klappe, rotzfrech. Ging mir mächtig auf den Zeiger. Hab ihm eine geknallt. Der Dorfhippie sitzt daneben, schaut zu und gibt mir wertvolle Tipps von der Schrankbettkante herab.
Johanna: Kaum zu glauben!
Mary Poppins: Also ziehe ich die Laken straff.
Yves: Sie geht raus aus der Reflektion.
Johanna: Sie schaut hinter die Spiegel
Mary Poppins: Guten Morgen, Grinsekatze!
Johanna: Hier, nimm einen Keks.
Yves: Mary Poppins, ich liebe dich. Und wenn ich jetzt rüberkomme und ein Blatt Papier auf dein Gesicht drücke, ist das Kunst.
Mary Poppins: Wir treffen uns bei den Schaukeln. (Licht aus)

II.

Yves sitzt auf der Bordsteinkante. Johanna auf einem Betonpoller. Dahinter ein schmiedeeiserner Zaun. In der Tiefe eines städtischen Gartens, ein kleines Rondell mit Schaukeln. Eine ist in Benutzung. Die Szene wirkt überbelichtet.

Yves: Sie ist schon da. Dahinten auf der Schaukel, das ist Mary Poppins. Was hast du mitgebracht?
Johanna: Nichts, (nimmt ihr Brille ab, putzt sie am Kapuzenjackenzipfel) außer wahnsinnige Kopfschmerzen. (Setzt die Brille wieder auf) Warum treffen wir uns mit ihr?
Yves: Die Idee ist, wir schreiben ihr unabhängig von einander Briefe an uns. Sie zerschneidet sie, so wie ihr es gefällt, setzt sie neu aneinander und sich dazwischen. (Johanna nimmt die Brille wieder ab, reibt sich die Augen, massiert ihre Stirn) Ich kenne deine Briefe an mich nicht, du meine an dich nicht. Wir lesen hinterher was sie daraus gemacht hat und wie sie sich einmischt. Darauf reagieren wir.
Johanna: Ich weiß nicht, ob ich lesen will, was dabei heraus kommt. Aber das ist mein Prinzip. Würde ich das, was ich schreibe selber lesen wollen, wenn jemand anderes es geschrieben hätte. (Sie schaut über die Schulter zu den Schaukeln) Ich kann überhaupt nichts erkennen. (Setzt die Brille wieder auf) Bald bin ich blind.
Yves: Näher als mit diesem Vorhaben wirst du an eine Überprüfung deines Prinzips nicht herankommen. Auf jeden Fall musst du mal etwas geschehen lassen. Du kannst nicht für jeden deiner Schritte eine Reiserücktrittsversicherung abschließen.
Johanna: Aber ich kann mir gut überlegen, wohin ich fahre und in wessen Hände ich mich begebe.
Yves: Du lernst einen Mann völlig überraschend auf irgendeinem Bahnhof irgendwo in der Welt kennen, und drei Monate später kauft ihr eure ersten gemeinsamen Möbel. Warum jetzt so vorsichtig?
Johanna: Schreiben ist etwas ganz anderes. Man äußert sich, veräußert sich dabei. Das ist sehr gefährlich.
Yves: Ich weiß wie Mary Poppins schreibt. Wenn sie mit uns zusammenarbeiten will, gehe ich davon aus, dass sie es mit allergrößter Sorgfalt tut. Vertraust du mir noch? Den Vertrag mit deinem Ehemann hast du jedenfalls alleine unterschrieben.
Johanna: Ich habe überhaupt nichts unterschrieben, und Sorgfalt ist ein fremdes Wort aus deinem Mund. Ich kenne vor allem deinen Mund und deine Sprache seit Jahren. Bist du in sie verliebt?
Yves: Vielleicht bin ich in sie verliebt.
Johanna: Sie könnte deine Mutter sein.
Yves: Sie ist aber nicht meine Mutter. Du willst doch wissen, was die ganze Schreiberei soll. Hier ist die Gelegenheit.
Mary Poppins ist in der Zwischenzeit von der Schaukel gesprungen und auf die beiden Mädchen zugegangen.
Mary Poppins: Hallo! Na, wie steht’s? Sieht nach ernsten Unterredungen aus. Sollen wir die irgendwo anders gemeinsam fortsetzen? Ich bin so gerast auf meinem Fahrrad, dass ich völlig verschwitzt bin, und da hinten bei den Schaukeln zieht es.
Yves: Wir haben gerade mal 3 Euro in der Tasche, wenn wir zusammenlegen. Wir können uns doch hier auf der Bordsteinkante diesen Sprudel teilen. (Holt eine kleine Flasche aus der Seitentasche ihrer Hose) Oder zieht es hier auch?
Mary Poppins: Ein bisschen. Es ist vor allem ungemütlich. Kommt, ich lade ein.
Johanna: Ich fühle nichts.
Yves: (leicht gereizt) Außer wahnsinnigen Kopfschmerzen. Das ist Johanna. Sie sieht nichts und fühlt nichts, und deshalb möchte sie auch ihre Beobachtungen und Gefühle nicht von einer Fremden auseinander nehmen lassen.
Mary Poppins (lacht): Das hatte ich gar nicht vor. Hat Yves dir von der Idee erzählt?
Johanna: Gerade eben. Ich hatte noch keine Zeit darüber nachzudenken.
Yves: Hätte sie mehr Zeit gehabt, wären wir jetzt auch nicht weiter. Sie schreibt immer übers Losgehen, aber bevor sie nicht von ihrem Vater zum Bahnhof gebracht wird, wo sie dann ihrem zukünftigen Ehemann begegnet, der sie dann auf einer einsamen Insel absetzt, setzt sie sich nicht in Bewegung. Doch, schwimmen kann sie, während ich auf dem Trocknen sitze. Bei Johanna läuft alles nach Plan. Ich muss die Dinge aber anheben und schauen was darunter verborgen ist. Oft komme ich vom Wege ab und diesmal bin ich dabei dir begegnet.
Johanna: Wir haben aber nichts in der Hand, und wenn uns keiner mitnimmt, kommen wir auch nirgendwo hin.
Mary Poppins: Na, dann kommt, ich lade ein. Und wenn es etwas zwischen uns gibt, ist alles am richtigen Platz wenn ihr es hochhebt.
Während der nächsten Sätze wird das Licht langsam heruntergefahren, der Hintergrund verschwindet und der Vordergrund ist (Stichwort: Phantombilder) klar konturiert.
Mary Poppins: Es gibt Dinge, die man nicht benennen kann, die aber dennoch das Sehen beeinflussen.
Johanna: Es gibt ein Album von Cuba Missouri das heißt Things I wish I had not called just things. Es wäre besser die Dinge zu benennen.
Yves: Phantombilder. Ich bin ein Schnüffelkind. Ich atme alle Bilder gierig ein, laufe völlig benebelt rum und stoße mit dem Ellenbogen, dem Knie oder dem Kopf an diese Dinge. Sie stehen mir im Weg, immer.
Johanna: Das ist ja mal was.
Mary Poppins: Ja, das ist was. Es tun sich Möglichkeiten auf. Du kannst sie mit Hammer und Meißel bearbeiten. Du kannst sie zeichnen.
Yves: Sie sind schon gezeichnet. Markiert. (zeigt auf Johanna) Die pisst jeder Hund an.
Johanna: Du bist der Hund. Du schnüffelst. Du rümpfst die Nase. Aber dann machst du doch eine Kopie der Zeichnung und bleibst auf der Strecke….
Yves: Ich sollte dir die Haare waschen, mit Sekundenkleber, und deine neuen Möbel mit der Säge bearbeiten!
Johanna: …und jetzt willst du mal wieder vom Wege abkommen und ich soll mitkommen. Okay. Ich fände es aber schön, wenn wir die Leitplanke nicht aus den Augen verlören.
Yves: Willst du unsere Leitplanke sein, Mary Poppins?
Mary Poppins: Kommt, wir wollen Freunde sein. (Licht aus)

III.

Mary Poppins im Licht. Yves und Johanna weiter hinten im Schatten, links und rechts von Mary Poppins. Sie schreiben. Mary Poppins liest aus einem Buch. Deklamiert.

Mary Poppins: Am Anfang war das Wort und das Wort war Gott und ist bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben.
Am Anfang wovon eigentlich war dieses Wort mit dem alles anfing? Am Anfang der Geschichtsschreibung. Man nimmt im Allgemeinen an, dass das gesprochene Wort vor dem geschriebenen kam. (Winkt mit dem Buch, so wie die Chinesen einst mit der Maobibel winkten) Burroughs schlägt vor, die Sache anders zu sehen: das gesprochene Wort, so wie wir es kennen, kam nach dem geschriebenen Wort. Mit Hilfe der Schrift kann der Mensch anderen Menschen über beliebig große Zeiträume hinweg Nachrichten übermitteln. Korzybsky, der das Konzept der Allgemeinen Semantik, der Lehre von der Bedeutung der Bedeutung entwickelt hat, nennt den Menschen wegen dieser Fähigkeit „das Zeitüberbrückende Tier.“

Johanna und Yves werden nun aus dem Schatten geholt. Mary Poppins bleibt im Dunkeln bis sie wieder spricht.

Johanna: Liebe Yves.
Yves: Johanna und ich wollen am selben Tag sterben. Zufällig. An einem senfgelben Tag.
Johanna: Vor allen Leuten.
Yves: Oder losgehen, in Hosenträgern.
Johanna: Liebe ich dich.
Yves: Ich brauche Publikum.
Johanna: Deine Johanna.
Yves: Hey Johanna! Wie geht’s? Die Hausaufgaben habe ich erledigt. Alles andere auch. Ein bisschen schluderig vielleicht. Ich liebe dich.
Johanna: Einen Tag noch, Yves!
Yves: Standzeit. Ortsbeschreibungen. Auf der Strasse und in Begleitung, wie verabredet. Parkett rechts. Reihe 4. Platz 6. Ich sollte in den Baumarkt gehen und Scharniere kaufen, ein Bett bauen zwischen hier und da.
Johanna: Wenn du aufwachst bin ich schon fast da.
Yves: Frage: ist da näher als hier?
Mary Poppins: Man hat über die Begriffe Raum und Zeit nachgedacht. Es gibt jede Menge Zitate von klugen Leuten, aber heute ist Weltspartag und die alten Karteikarten sind speckig. Sie haben Eselsohren.
Johanna: Die spitzen wir und lauschen.
Mary Poppins: Wie die Zeit immer mehr schrumpft und es bald nur noch um Raum gehen kann, und wir nach stetigen Bemessungen in Zeit einen neuen Raum stetig werden durchmessen müssen. Man tut gut daran, gut zu Fuß zu sein.
Yves: Ich brauche keine Adresse.
Mary Poppins: Man kann hier sein ohne da zu sein.
Yves (gereizt): Sie wiederholen was man ihnen sagt. Ein Störgeräusch, ständig.
Mary Poppins (pathetisch): Wer nicht da ist steht herum.
Yves: Ich werde wegziehen, vorher noch diese Worte auswendig lernen: Leerzeichen. Fragezeichen. Sie lassen sich nicht auseinander halten.
Johanna: Wenn du aufwachst bin ich da.
Mary Poppins: Achtung! Stillgestanden!
Yves: Vorwärts und rückwärts. Aber ich komme hier nicht weg ohne eine Antwort.
Johanna: Hier bin ich.
Yves: Ich kaufe schnell Briefmarken. (Licht aus)
Im Dunkeln hört man den vorangegangenen Dialog als Cut-Up, vorwärts und rückwärts, im Schnelldurchlauf, in Zeitlupe und alles durcheinander. Licht an, dieselbe Einstellung wie zuvor.
Mary Poppins: Dies ist meine Methode das Archiv zu lagern. Ich lasse die Bänder mehrfach durchlaufen, vorwärts und rückwärts, lasse Luft zwischen die Magnetstreifen, die gammeligen Stellen schneide ich heraus. Dann verknüpfe ich die losen Enden.
Johanna: Präziser, bitte!
Yves: Sie verklebt die frischen Schnittstellen, lässt Leben überlappen. Sie lässt etwas im Hintergrund stehen.
Mary Poppins: Ich lasse etwas im Hintergrund stehen, was vordergründig betrachtet noch nicht geschehen ist. Hole Vergangenheit zurück in die Zukunft, drehe am Rad.
Johanna: Sie dreht am Rad, glotzt über die Schulter wie Lots Weib. Salzsäulen stehen dort. (Sie nimmt die Brille ab. Putzt sie mit dem Kapuzenjackenzipfel. Schaut über die Schulter) Ich kann gar nichts erkennen. Bald bin ich blind.
Yves (gereizt): Ein Störgeräusch, ständig.
Mary Poppins (zu Johanna, wie eine Souffleuse): Überall Kunst die keiner kauft. (Dann noch einmal laut): Überall Kunst die keiner kauft.
Yves: Phantombilder, im Hintergrund unscharf.
Johanna (zu Mary Poppins, wie eine Souffleuse): Aber ich blinzele nicht.
Mary Poppins: Aber ich blinzele nicht. Die untergehende Sonne knipst sowieso viel schönere Bilder an, und wenn die schon verschwunden sind, ist sie noch lange nicht weg.
(Mary Poppins wird ausgeknipst)
Yves: Ich glaube, Mary Poppins ist verliebt.
Johanna: Vielleicht ist sie verliebt, aber nicht in uns.
Johanna und Yves: Wir könnten ihre Mutter sein!
(Licht aus)

IV.

Mary Poppins allein im Licht. Um sie herum sind kleinere und größere Kästen postiert, die gelegentlich sichtbar werden, oder abwechselnd als Projektionsfläche für Tierbilder verwendet werden. Flughund. Elefant. Krebs. Giraffe. Die jeweiligen Projektoren flackern. Wenn das Bild steht, spricht das Tier. Die Aufnahmen werden von Tonbandgeräten abgespielt, die geräuschvoll an und wieder ausgeschaltet werden.

Mary Poppins: In meinem Archiv bin ich umgeben von magnetisch aufgeladenen Spulen. Betrete ich dieses Informationszentrum ohne eigene Agenda, also wie ein leeres Band, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich mit einer Erinnerung bespielt werde, die nie vergessen war, doch nur als Kopie der Zeichnung existierte. Eine Schramme statt einer Verstümmelung.
Giraffe: Von hier oben lässt sich diese Gegend prima überblicken. Es geht ein leichter Wind. Die Luft ist weich, wie Milch.
Flughund: Ich sehe den Strand und wie das Wasser in der untergehenden Sonne silbrig glänzt.
Mary Poppins: Ich sehe die Treppe, den Weg zur Klippe, ich sehe dich im Gegenlicht stehen. Wie tief du gehst!
Krebs: Der Wind spielt mit deinem Haar.
Elefant: Nie wirst du das vergessen.
Giraffe: Die Liebe hat sich in deinem Haar verfangen.
Mary Poppins: Das werde ich niemals vergessen.
Flughund: Ich sehe die Klippe, den Weg zur Treppe, ich sehe dich in die Knie gehen.
Giraffe: Die Luft schmeckt nach Milch.
Mary Poppins: Am unteren Ende der Treppe liege ich, die Sonne verschwindet im Meer. Wie stark sie ist!
Elefant: Niemals wirst du vergessen, wie der Wind mit deinem Haar spielte, als du in die Knie gingst.
Krebs: Das Licht flackert, die Luft flirrt.
Flughund: Die Schönheit flattert im Wind.
Mary Poppins: Achtung! Stillgestanden!
Giraffe: Ich sehe den Felsen, ich sehe den Weg, du gehst die Treppe hinauf.
Krebs: Die Hände haben sich in deinem Haar verfangen.
Flughund: Sie sind kühl wie Seide. Es riecht nach Milch.
Giraffe: Dein Kopf ist geschoren.
Krebs: Dein Hals ist gebrochen….
Elefant: …als du in die Knie gingst.
Mary Poppins: Ich steige die Treppe hinauf. Eine Schramme ziert mein Knie. Das Phantombild einer tiefen Wunde. Es steht mir im Weg.

Die Kästen mit und ohne Projektionen im Hintergrund verschwinden im Dunkel. Das Licht in dem Mary Poppins steht fängt an zu flackern, geht aus.

29.11.07 © Katharina Franck

Der Cut-up “Ich delete meinen comment, Mary Poppins” von kater lezmann, Piet & Katharina Franck erschien in dem Literaturmagazin SPELLA erzählt Geschichten Nr.3. Ist leider vergriffen.

Posted in .